OGH 10. 4. 2014, 6 Ob 224/13d
Grenzüberschreitende Verlegung des Satzungssitzes
1. Gesellschaften, die nach dem Recht eines anderen EWR-Vertragsstaats gegründet wurden, können sich in eine österreichische Gesellschaft identitätswahrend umwandeln, wenn zugleich der Verwaltungssitz nach Österreich verlegt wird, die Gesellschaft sämtliche Voraussetzungen erfüllt, die nach dem Recht des Wegzugsstaats für eine solche Umwandlung bestehen und die Gesellschaft die Anforderungen an eine österreichische Gesellschaft (insbesondere in Bezug auf Satzung, Kapitalausstattung, Organbesetzung) erfüllt.
2. Dies gilt auch für eine OG oder KG.
3. Weitere Voraussetzung der Sitzverlegung einer ausländischen Gesellschaft nach Österreich ist, dass die Herkunftsrechtsordnung eine derartige Sitzverlegung ohne Liquidation zulässt.Anmerkung:
1. Der OGH konnte – soweit ersichtlich – erstmals zur Frage einer grenzüberschreitenden Satzungssitzverlegung, hier eine sog "Hereinumwandlung", entscheiden. Bemerkenswert ist mE auch, dass er die hauptsächlich zu Kapitalgesellschaften entwickelte EuGH-Jud unmittelbar auf Personengesellschaften anwendet. Dem ist voll und ganz zuzustimmen.
Der OGH folgt der durch den EuGH über die Jahre gebildeten Linie zum Europäischen Gesellschaftsrecht mit ausf Zitaten aus dieser Jud; demnach gilt:
Eine Ges kann (freilich nur im Binnenmarkt des – aus der EU plus Island, Norwegen und Liechtenstein bestehenden – EWR)
§ identitätswahrend (dh ohne Neugründung) und
§ ohne Liquidation
ihren Satzungssitz über die Grenze hinweg verlegen und die Eintragung in das Register des Zuzugsstaates begehren. Voraussetzung ist, dass gleichzeitig auch der Ort der Hauptverwaltung verlegt wird.
Dazu muss die Ges
§ die nach dem Recht des Wegzugsstaats (hier Italien) für eine solche "Umwandlung" bestehenden Vorschriften erfüllen (diese sind unionsrechtlich weitestgehend zulässig, vgl EuGH 16. 12. 2008, C-210/06, Cartesio: die Zwangsliquidation darf freilich nicht verlangt werden; zusammenfassend zur Wegzugs-Judikatur des EuGH vgl Brugger in Gruber/Harrer, GmbHG § 107 Rz 125–128, zur Wegzugs-Besteuerung weiters Rz 129 und EuGH 29. 11. 2011, C-371/10, National Grid Indus) und
§ im Zuzugsstaat (hier Österreich), der den Zuzug nicht grds verhindern darf (EuGH 12. 7.2012, C-378/10, Vale; das übersieht das ErstG völlig) die Anforderungen an die strukturell äquivalente Gesellschaftsform (hier S.A.S./KG), insb in Bezug auf Satzung, Kapitalausstattung, Organbesetzung, erfüllen (zusammenfassend zur Zuzugs-Judikatur des EuGH vgl Brugger in Gruber/Harrer, GmbHG § 107 Rz 24–25). Dies ist im Firmenbuchantrag konkret zu behaupten (und, sofern das Firmenbuchgericht dies im Rahmen seiner umfassenden Prüfungspflicht verlangt, auch zu bescheinigen).
2. Im Anlassfall der Sitzverlegung von Neapel nach Kaprun lag genau hier das– nicht rechtliche, sondern – faktische Problem. Denn die S.A.S. änderte den Gesellschaftsvertrag vor der Firmenbuchanmeldung eben nicht dahin, dass sie
§ nun KG als Rechtsformbezeichnung im Firmawortlaut tragen soll und
§ nun den Sitz in einem Ort in Österreich habe und
§ nun der Gesellschaftsvertrag österreichischem Gesellschaftsrecht unterliege und
§ dessen Anforderungen, soweit sie zwingenden Rechts sind, entspreche (keine freie Rechtswahl, vgl Brugger in Gruber/Harrer, GmbHG § 107 Rz 18–19; tw aA Eckert, Internationales Gesellschaftsrecht 232-394 )
Vielmehr sollte im Anlassfall nach dem Anmelde-Vorbringen diese Gesellschaftsvertragsänderung erst nach der Firmenbucheintragung beschlossen werden (arg "beabsichtigte Fassung" des Gesellschaftsvertrages) und der dem Firmenbuchgericht vorgelegte Gesellschaftsvertrag bezog sich nach wie vor auf italienisches Recht. Aufgrund dieser Umstände konnte die Firmenbucheintragung tatsächlich nicht gelingen. Der E ist somit voll zuzustimmen.
3. Nur die Ansicht des Erstgerichtes, die Anmelder hätten nicht (nicht ausreichend) nachgewiesen, dass der Wegzug der Ges aus Italien ohne Liquidation zulässig sei, geht mE ins Leere, denn Italien darf die Zwangsliquidation schon gem EuGH Cartesio (dort Rz 113) nicht verlangen. Der OGH geht leider nicht näher darauf ein, sondern verweist nur auf die verstärkte Mitwirkungspflicht der Einschreiter zum Nachweis ausl Rechts und weiters darauf, dass die Einschreiter diese (mE falsche) Rechtsansicht im Revisionsrekurs nicht bekämpft haben. Übrigens kam es bei einem nahezu identen Parallelfall (FN 416543p, Satzungssitzverlegung einer KG von Südtirol nach Nordtirol) jedenfalls problemlos (auf Basis einer Bescheinigung des italienischen Notars über das italienische Recht) zur Eintragung. Die grenzüberschreitende Sitzverlegung funktioniert also in der Praxis.
Trotzdem gibt es bisweilen den Ruf nach eindeutigen gesetzlichen Normen für die Sitzverlegung, um die (aber mE höchstens punktuell bestehenden) Unsicherheiten zu verringern.
4. Soweit der OGH (in Punkt 1.2. der E) und das von ihm zit ErstG vom "Gemeinschaftsrecht" sprechen, ist wohl das Unionsrecht gemeint, denn mit dem am 13. 12. 2007 abgeschlossenen Vertrag von Lissabon ist seit 1. 12. 2009 das Gemeinschaftsrecht zum Unionsrecht geworden; nur in früheren Rechtsakten wird daher noch von Gemeinschaftsrecht gesprochen.
Walter Brugger
Hon.-Prof. RA Dr. Walter Brugger ist Gründungspartner von Dorda Brugger Jordis Rechtsanwälte GmbH, Wien, und im Gesellschafts- und Wettbewerbsrecht tätig.